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Marisa

Schweiz
43 Beiträge

Erstellt am: 20.06.2010 :  10:14:16 Uhr  Profil anzeigen  Antwort mit Zitat
Wenn Reiter gegen Reiter Anzeige erstatten

In einem Reitstall bei Winterthur überschlägt sich ein Polopony beim Longieren mehrmals und muss eingeschläfert werden. In Deutschland wird eine 59-jährige Ausbildnerin zu einer saftigen Busse und einem zweijährigen Umgangsverbot mit Pferden verurteilt. In beiden Fällen haben nicht aussenstehende Tierschützer Anzeige erstattet sondern Reiter aus dem Umfeld. Was aber nur bringt Menschen immer wieder dazu, an ihren doch so geliebten Pferden Sadomethoden anzuwenden?

Für den Polosport war der elfjährige Wallach zu langsam geworden und hätte deshalb eine neue Aufgabe als Reitpferd finden sollen. Auf die Dauer von einem Monat war die Umschulung im Reitbetrieb bei Winterthur festgelegt worden. Unter anderem gehörte das Longieren dazu. Die über Jahre eingenommene Haltung mit nach oben genommenem Kopf und weggedrücktem Rücken ist bei Pferden in einem Schulbetrieb nicht gefragt. Wer vom Reitlehrer gelobt werden will, der muss auf einem Pferd sitzen, das sichtbar nachgibt, die Nase tief trägt und wenigstens ansatzweise mit aufgewölbtem Hals die Figuren abtrabt. Reitschüler ernten mit Pferden in solch lehrbuchmässiger Haltung beim Lehrer Lob, Routiniers verschaffen sich als Könner die Achtung in der Reithalle und auf dem Turnierplatz. Wie die Realität aber leider zeigt, sind die Folgen davon oft verheerend – Hilfszügel in allen Variationen sollen das «Bogenhälsli» formen und das damit verbundene Reiterglück im Sattel herbeiführen. Was sich uns heute an Trensen und Hilfszügeln präsentiert, ist erschreckend und für jedermann/-frau frei erhältlich. Nicht einmal das Reiterbrevet als Waffenschein wird als Legimitation für den Erwerb von Ausbildungsutensilien vorausgesetzt. Dass damit dann oft mehr Zwang ausgeübt als Ausbildung betrieben wird, ist nicht verwunderlich. Ganz entgegen der einst von Reitmeister Richard L. Wätjen ausgesprochenen Warnung: «Es ist sehr wichtig, dass man nicht versucht, ein Pferd, das den Begriff des Nachgebens (durch das Genick treten) nicht kennt, durch den Schlaufzügel in die Versammlung hineinzuzwingen.»

Das Pferd mit Zwang zum Nachgeben zu bringen ist erst kürzlich in Deutschland zu einem Gerichtsfall geworden. Zu 6300 Euro Geldstrafe und einem zweijährigen Umgangsverbot mit Pferden wurde eine 59-jährige Reiterin von einem norddeutschen Amtsgericht verurteilt. «Dieses Schwein will sich nicht biegen, den knack ich, scheissegal, wie lang es dauert», soll sie in ihrer Wut geschrieen haben. Im Unterschied zum Polopony handelte es sich aber um ein Pferd von grösserem Wert: Ein Kapital in der Höhe von 100'000 Euro stelle man doch nicht ausgebunden in eine Ecke der Reithalle und schlage drauflos, wurde von der Verteidigung argumentiert. Und doch wurde und wird es immer wieder gemacht!

Ob das zu Tode gekommene Polopony misshandelt wurde oder ob es sich um einen Unfall handelte, wird von der Staatsanwaltschaft abgeklärt. Von Amtes wegen eingeschaltet wird im Kanton Zürich zudem auch der Tieranwalt François Goetschel: «Meine Aufgabe ist es, die Möglichkeiten des Pferdes zu vertreten, als wäre es ein Mensch.» Diese in der Schweiz einmalige Institution widerspiegelt das in den vergangenen Jahren in den westlichen Industrieländern gewachsene Interesse an Tieren. Gerade in Ethikkreisen wurde vermehrt über die «Würde des Tieres» nachgedacht. Dabei geht es um einen Zugang über die reinen Tierschutzfragen hinaus, es geht um Einsicht in den Eigenwert der Tiere und ihre Eigenart – die spezifische wie die individuelle – und um die Achtung davor. Die Eigenart der Tiere soll sich entfalten können und diese Entfaltung darf nicht durch den fordernden Zugriff des Menschen verstellt, verhindert oder gar gebrochen werden. Pferdesportler müssen sich vermehrt, wie auch das Gerichtsurteil aus Deutschland zeigt, mit Tierschützern aus verschiedensten Lagern auseinandersetzen. «Die Reiterei als eine erfüllende Beschäftigung mit grossartigen Tieren», warnt Professor Peter Kunzmann vom Ethikzentrum der Friedrich-Schiller-Universität Jena, «wird den wohlwollenden Respekt, den sie auch unter Unbeteiligten geniesst, sehr rasch verspielen, wenn sich ernste Zweifel daran erheben, dass es den Tieren dabei gut geht. Wenn es zu Konflikten kommt, werden sich die meisten der nicht-reitenden Zeitgenossen intuitiv auf die Seite des Pferdes stellen, gegen die Reiter, Preisrichter oder Züchter. Die Auswirkungen von wirklichen oder mutmasslichen ‘Tierquälereien’ wird katastrophal sein für alle, die intensiver mit Tieren zu tun haben.» Was in den Reithallen und Vierecken abläuft, wird allerdings nicht in erster Linie von Laien beobachtet. In beiden Fällen waren es nicht übereifrige Tierschützer, die bei der Polizei Anzeige erstatteten, sondern mit der Reiterei vertraute Personen.

Dass misshandelte Pferde die Tierschützer auf den Plan rufen, ist allerdings nicht neu. Wie zeitgenössische Darstellungen belegen, sind die vor gut 120 Jahren ins Leben gerufenen Tierschutzvereine vornehmlich als Reaktion auf geschundene Zugpferde zu werten. Wenn mit Pferden Geld verdient – früher im Transportdienst, heute im Sport oder Unterricht – werden muss, sind sie in unserer kommerzialisierten und leistungsorientierten Gesellschaft sehr schnell einmal die Leidtragenden.
Auch wenn materielle Gründe in unserer schnelllebigen Zeit vielfach die Ursache für tierschutzwidrige Ausbildungsmethoden sind, führen seit eh und je auch spezifische Charaktereigenschaften der Reiter zu rüden Trainingsmethoden. In der Hochblüte der militärisch beherrschten Reiterei hielt in den 40er Jahren Oscar Frank in seinem Buch «Reiten» fest: «Wenn der Mensch seine ‘Herrennatur’ nicht bei seinen Artgenossen zur Geltung bringen kann, versucht er es leider oft beim Pferd.» Frank fand schon vor 60 Jahren den damaligen Menschen einen schlechten Dresseur und Abrichter, weil er sich keine Zeit mehr nehme; seine Nervosität fordere Hast und Eile und beide seien die schlimmsten Feinde in der Erziehung und Abrichtung der Tiere. «Der ‘Kulturmensch’ von heute ist soweit von der Natur entrückt, dass er das Einfache und Natürliche nicht mehr zu verstehen vermag. … Gibt man einem Pferd einen Affen als Kameraden in den Stall, so werden sie sich in einigen Stunden verstehen; doch der Mensch versteht sein Pferd nach Jahren nicht. Entweder will er das Pferd mit Menschenverstand ausgestattet wissen, oder er macht daraus eine Maschine – armes Pferd.»

In Kommunikationsseminaren werden verschiedentlich Pferde, Esel oder Maultiere eingesetzt. Hier sind dann für einmal die Vierbeiner die Lehrmeister. Offenbar sehr geduldige, sind doch bis dato keine Klagen von durch Pferde misshandelte Menschen publik geworden. Warum aber, fragt man sich, ist das Gegenteil immer wieder der Fall? Ist es allein die Wut darüber, dass ein uns ausgeliefertes Lebewesen sich weigert, sich unserem Willen zu beugen? Und nicht einmal aus Widersetzlichkeit, sondern weil es uns einfach nicht versteht oder weil unser Können im Sattel nicht ausreicht? Die Frustration über die eigene Unfähigkeit, ein Pferd in die gewünschte Bogenhals-Haltung zu bringen, nimmt vielfach schlimme Auswüchse an.

Besondere Brisanz erfährt der Fall des Poloponys durch die im Reitstall beschäftigten Lehrlinge. In einem Betrieb zudem, in welchem der Lehrmeister bereits vor Jahren eine Zeitlang keine Lehrlinge mehr ausbilden durfte. Lehrmeister sind grundsätzlich Weisungsberechtigt, Lehrlinge haben deshalb das auszuführen, mit was sie der Lehrmeister beauftragt. Doch auch Lehrlinge haben das Recht nein zu sagen: Dann nämlich, wenn der Auftrag die gültige Gesetzgebung wie Tiermisshandlung verletzen würde. Doch hätten sie, die in der Ausbildung stehen, mögliche Folgen ihres Tuns erkennen können? Dass es im Umgang mit Tieren landauf, landab immer wieder zu tierquälerischen Handlungen kommt, ist eine Tatsache. In der Pflicht stehen deshalb in erster Linie die Sportverbände und die Aufsichtsorgane über die Berufslehren – weil die Sportreiter über die Turnierplätze hinaus Vorbildfunktion ausüben und die Lehrlinge die Ausbildner von morgen sind. Christian Model, der Anwalt des angeklagten Reitlehrers und Tierarztes, fordert jetzt schon die Verbände auf, entsprechende Leitlinien für den Umgang mit Pferden auszuarbeiten: «Ich habe überall gesucht, aber nichts dergleichen gefunden. Verbindliche ethische Grundsätze würden Leitplanken setzen, nach denen man sich ausrichten kann.» Zu bedauern sind zweifellos all jene, die mitansehen mussten, wie sich das arme Tier mehrmals überschlagen musste, bevor man endlich von ihm abliess. Zwei Lehrlinge haben mittlerweile den Betrieb verlassen.


Kasten

Beim Longieren mehrmals überschlagen

In einem Reitstall bei Winterthur hätte ein elfjähriges Polopony zu einem Reitpferd umgeschult werden sollen. Zu diesem Zweck wurde es mit einem Hilfszügel ausgebunden Das Pony überschlug sich dann mehrmals und blieb schliesslich liegen. Eine Pensionärin alarmierte die Polizei, die in Begleitung des zuständigen Bezirkstierarztes auf dem Platz erschien. Der Reitlehrer, der selber Tierarzt ist, gab mehrere Wespenstiche als Grund der Verletzung an. Doch die Amtspersonen schenkten den Erklärungen über die Ursachen der Verletzungen keinen Glauben und haben gegen dessen Willen nach Rücksprache mit dem Kantonalen Veterinäramt das verletzte Tier mit der Pferdeambulanz des Grosstierrettungsdienstes ins Tierspital Zürich überführt. Dort wurden beim Pony eine Schädelbasisfraktur und innere Blutungen festgestellt, das dann noch während den Untersuchungen starb. Wegen Verdachts auf ein Vergehen gegen das Tierschutzgesetz wurde in dieser Angelegenheit von der Bezirksanwaltschaft Winterthur durch die zuständige Staatsanwältin Susanne Steinhauser gegen mehrere Personen ein Verfahren eingeleitet. Anzeige wegen Tierquälerei hat zudem der Reitstallbesitzer gegen den die Überführung nach Zürich anordnenden Bezirkstierarzt erstattet, weil das Pony in diesem Zustand seiner Meinung nach nicht transportfähig gewesen war.
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